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AutorenbildJelena Martinelli

Tote Leichen, weisse Schimmel

Aktualisiert: 9. Sept. 2022

«Lecker», sagte meine Schwester. «Was für ein scheussliches Wort.»


Ich hatte einen Werbetext für einen Kochkurs geschrieben und meine Schwester um ihre Meinung gebeten. Das mache ich oft, denn ihr Sprachgefühl ist untrüglich. Sie wäre ja eine begnadete Lektorin, doch verdient sie ihr Geld lieber als Fitnesstrainerin. Insofern – wenn es nicht schon der französische Verleger Georges Clemenceau gesagt hätte, der folgende Satz könnte von ihr stammen:


«Wenn Sie ein Adjektiv verwenden wollen, so kommen Sie zu mir in den dritten Stock und fragen, ob es nötig ist.»


Und zwar über die Treppe; für Leute, die den Lift nehmen, hat meine Schwester kein Verständnis – déformation profesionelle. Was man mit «Berufskrankheit» übersetzten sollte und nicht mit der «professionellen Verformung».


Womit wir in medias res wären: beim Adjektiv.


Diese Wortgattung empfinden offenbar alle, die zu Sprache etwas zu sagen haben, als eine Art Landplage; das Adjektiv ist unerwünscht und doch unausrottbar wie Unkraut auf einem Kartoffelacker. Denn laut den Kritikern wird es oft ohne Sinn und Verstand verwendet, dafür aber gnadenlos grosszügig, als müsse man es loswerden wie Moonboots im Winterschlussverkauf. So scheint überall hartnäckig die «warme Sonne» und es friert einen im «kalten Winter». Wo doch eher ein warmer Winter von Interesse wäre oder eine Sonne, wie sie Kurt Vonnegut in seinem Antikriegsroman «Schlachthof 5» beschrieben hat: «Der Himmel war schwarz vor Rauch. Die Sonne war ein winziger, grimmiger Knopf.»


«Eine wahre Affenliebe zum Adjektiv hat sich da zulasten der Logik breitgemacht», tönt es vom Journalisten und Deutschpapst Wolf Schneider. Während die tote Leiche und der weisse Schimmel noch die harmlosesten sind, da am offensichtlichsten ist, was hier nicht stimmt, findet man andere, weit heimtückischere Formulierungen. Zum Beispiel die:


- vierköpfigen Familienväter

- rostfreien Stahlhändler

- warmen Würstchenverkäufer

- flüssigen Textverfasser


Sie lachen? Freuen Sie sich nicht zu früh: Spätestens bei der «künstlichen Intelligenzforschung» oder der «wirtschaftlichen Erholungsphase» werden auch Sie still. Stimmt’s? Missverständlich und schief gebildet nennt Wolf Schneider diese Adjektive respektive Wortkonstrukte.


Eine «leckere Mahlzeit» hingegen kann man nicht falsch verstehen – hier ist das Adjektiv höchstens überflüssig, weil es nichtssagend ist. Ein Adjektiv sollte laut Wolf Schneider denn auch nur dann eingesetzt werden, wenn es nötig ist: zum Beispiel zur Unterscheidung. «Die blaue Bluse, nicht die grüne», sagt er. Aber von starkem Wind zu sprechen, wenn man stattdessen Sturm sagen kann, oder vom heftigem Weinen, wenn es doch das Schluchzen auf den Punkt bringt; das sei unnötig.


Tja, aber was soll ich schreiben, wenn ich «lecker» nicht mehr in den Mund nehmen darf? Als Werbetexterin muss ich doch meine Leserinnen und Leser in Kaufstimmung versetzen – die «Mahlzeit» allein scheint mir dafür zu fade. Wie drücke ich mich aus, wenn ich die Jogginghose nicht «bequem» nennen soll (Jogginghosen sind alle bequem) oder nicht mehr von «nützlichen Vorteilen» sprechen (alle Vorteile sind nützlich, sonst sind es Nachteile)?


Zum Glück ist Wolf Schneider kein Unmensch. In seinem Standardwerk «Deutsch!» schreibt er:


«Allenfalls verzeihlich sind nichtssagende oder überflüssige Eigenschaftswörter dort, wo die Eigenschaften der Materie eine körnige Beschreibung nicht zulassen – bei der Werbung für Uhren, Parfüm und Mode beispielsweise. Dort gilt es, mit Adjektiven Fülle vorzutäuschen: bezaubernde Farben, edles Design, festliches Outfit, femininer Zuschnitt, schmeichelweicher Stoff, blumig-exotische Duftpersönlichkeit.»


Gottseidank. Ob ich also «lecker» oder «fein» sage, ist lediglich eine Frage des Geschmacks.

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